Kolumne
Mensch, Tiger!
30. April 2024 , Carsten Moritz
Golfmentor Carsten Moritz teilt nach einem denkwürdigen Masters seine Gedanken zu Tiger Woods.
Das letzte Masters in Augusta ist ja jetzt schon ein paar Tage her, aber noch immer beschäftigt es mich. Tiger Woods kam in die Schlagzeilen, nachdem er beim geschichtsträchtigen ersten Major des Jahres mit 16 Schlägen über Par den 60. und damit letzten Platz des aktiven Teilnehmerfelds am Wochenende erreicht hat. Müssen wir nun weinen? Nein, wir sollten ihn abfeiern!
Tiger hat mit Runden von 73 und 72 den Cut in einem starken Teilnehmerfeld geschafft und damit zum Beispiel Viktor Hovland, Jordan Spieth, Dustin Johnson oder Justin Thomas hinter sich gelassen. Gönnen Sie sich ein Tasting und lassen es sich auf der Zunge zergehen: Tiger steht mit 48 Lenzen kurz vor der Senioren-Tour und setzt aus dem gefühlten Ruhestand kommend eine Bilanz von eins über Par nach zwei Runden auf die Scorekarte. Er trägt Verletzungen einer halben Fußball-Bundesliga-Mannschaft in den Knochen und humpelt fast über den sehr hügeligen Kurs zu seinem Ergebnis. Ohne in der so notwendigen Turnierpraxis zu sein, schickt er junge und in vollem Saft stehenden Profi-Golfer hinter sich und damit nach Hause. In dieser Situation und mit diesen Rahmenbedingungen ist in meinen Augen die Leistung zu beglückwünschen. Wer mit dem 60. Platz ernsthaft unzufrieden ist, sollte das vielleicht noch einmal überdenken.
Vielleicht fragen Sie sich auch, warum mich das diesjährige Masters so bewegt. Wie viele von Ihnen, bin ich mit Tiger Woods quasi golftechnisch aufgewachsen. Ich verfolge Turniere seit den 90ern über den Bezahlsender, der damals noch einen anderen Namen trug. In meinem Keller ist noch eine alte Sammlung mit alten VHS-Videokassetten, auf denen ich meist Major-Finalrunden oder Shells Wonderful World of Golf aufgenommen habe. Gibt es heute alles auf You Tube. Tiger kam schon 1996 auf das Radar der Golffans, als er damals das US-Amateur rockte. Als er dann 1997 das Masters gewann und seine Mitspieler pulverisierte, merkte jeder, dass eine besondere Ära beginnen sollte. In den Büchern las man von Harry Vardon, Bobby Jones oder Ben Hogan; im Fall Tiger Woods konnte man spüren, dass man wohl direkt in einer solchen Ära steckte. Es war schon etwas Besonderes.
Der Rest ist erst mal lebendige Geschichte. Sie erinnern sich! Die erfolgreichen 2000er Jahre, zahlreiche Siege und insgesamt 14 Majors in einem atemberaubenden Tempo. Die Erinnerungen an die US Open 2008 sind unvergessen, als er mit einem Ermüdungsbruch im Bein den Sieg errang. Schon damals forderte die Intensivität seines Golflebens den Preis ein. Neben den privaten Eskalationen, die seinen bisherigen Rhythmus stören sollten, häufte sich die Anzahl der Operationen und Wehwehchen. Tiger war ein Wrack. Trotz seiner ungebrochenen Strahlkraft setzte niemand mehr so wirklich einen Pfifferling auf den zwangsläufig älter gewordenen und privat gestrauchelten Superstar. Der angestrebte Rekord von Jack Nicklaus' 18 Major-Siegen schien endgültig unerreichbar.
Augusta 2019. Tiger holte sich nach einer sagenhaften Schlussrunde seinen 15. Major-Sieg beim Masters. Unvergessen der Showdown am Amen Corner, als er gegen Molinari und Finau an der Zwölf cool blieb. Tiger holte sich den Titel, die Golfwelt flippte aus und alles schien möglich. Es war damals wie ein schöner Ausflug zurück in die goldenen Zeiten. Danach kämpfte Tiger weiter mit alten und neuen Verletzungen und spielte weniger. Aber die Golffans liebten ihn weiter und fieberten jedem Auftritt entgegen.
Dann kam die Genesis 2021 und der verheerende Autounfall, der das Schlimmste befürchten ließ. Tiger hatte es so schwer erwischt, dass sogar befürchtet werden musste, dass er sein Bein verlieren könnte. Man wurde an Ben Hogan erinnert, der um die 1950 herum ebenfalls einen schweren Autounfall knapp überlebte und Monate später ein sensationelles Comeback erleben durfte. Damals gekrönt von einem Open-Sieg im schottischen Carnoustie. Die Golfwelt betete und freute sich, als Tiger Woods überhaupt wieder auf dem Golfplatz antreten konnte. Sehr selten, sehr angeschlagen, aber er war wieder da!
Die Zeit verging schnell bis zum diesjährigen Masters. Der Rest ist die bereits erzählte Geschichte. Und die Golffans sind dabei. Live und in Farbe bei der Fortsetzung eines modernen Märchens. Die privat unruhigen Zeiten, die Liebe zu seinen Kindern Alex und Charlie, die körperliche Anfälligkeit macht den Superhelden Tiger Woods menschlich. Und dieser Mensch zeigt uns, was unbändiger Wille im Golfsport erreichen kann. Siege bedeuten viel, aber nicht alles. Danke für diese Lektionen und lebendige Golfgeschichte.
Herzliche Grüße,
Carsten Moritz