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Reisesommer 1939: Träume vom Süden - inklusive Sturmwarnung


18. November 2024 , Wolfgang Weber


Reisesommer 1939: Urlaubsträume von Italien und Dalmatien - und Mittelmeer-Kreuzfahrten
Reisesommer 1939: Urlaubsträume von Italien und Dalmatien - und Mittelmeer-Kreuzfahrten | © W.Weber

Reiseexperte Wolfgang Weber findet in einer Flohmarktkiste alte Reiseprospekte aus dem Jahr 1939 und bastelt daraus für Golf.de und seinen EverGreens-Podcast eine Zeitreise mit Golfbezug.

Sie steckten in einer Flohmarktkiste, eingeklemmt zwischen halb zerfledderten Taschenbüchern und eselsohrigen Comic-Heften: die beiden nur leicht lädierten Reiseprospekte im kompakten DIN-A-5-Format. Zufällig lugte das Heft mit dem Titel „Frühjahrs- und Sommerreisen“ in der ungewohnten Sütterlin-Schrift aus dem Stapel hervor. Die kitschig-quietschbunte Zeichnung einer Blondine auf einem fliegenden Koffer mit der fetten Jahreszahl „1939“ auf der Frontseite war wie ein Versprechen:   Auf diesen vergilbten Seiten versteckten sich die Urlaubsträume unserer Groß- oder Urgroßeltern vor 85 Jahren, kurz bevor Europa in Flammen aufging und die Welt in Stücke barst. Schauen wir doch mal hinein, was sie uns verraten über den Reisesommer 1939…

In welche Richtung es die Deutschen im letzten Sommer vor dem großen Krieg ganz eindeutig zog, wird schon beim flüchtigen Durchblättern der uralten Werbeprospekte deutlich: Die Traumziele lagen ausnahmslos im Süden - am Gardasee, an der Riviera zwischen Rapallo und San Remo, auf Capri und Sizilien, vor allem aber an der „südlichen blauen Adria“, von Venedig bis ins jugoslawische Süddalmatien. 

Daß man Großdeutschlands Männer vom Herbst jenes Jahres an massenhaft in eine ganz andere, weit weniger begehrte Richtung schicken würde – viele ohne Rückfahrschein – lassen die Hefte nicht erahnen.

Alle wollten südwärts

„Ohne Schwierigkeiten nach dem Süden“ gelangte man, sofern man in Leipzig oder Dresden lebte, mit Hilfe des Reisebüros ILF. So lautete jedenfalls das Versprechen, als die Dresdner Druckerei Max Dunki im Herbst '38 den Prospekt des Veranstalters für die folgende Frühjahrs- und Sommersaison fertigstellte. Daß es die letzte Broschüre ihrer Art und der letzte Sommer vor dem größten Höllenritt der Geschichte sein würde, ahnte da noch niemand. 

Einmal noch sind sie „südwärts“ gereist, wie es auch der „Gesellschaftsreisen“-Prospekt der „Mitteleuropäischen Reisebüro GMBH (Deutsches Reisebüro)“ aus Berlin nahelegte. Einmal noch durften zahlungskräftige Volksgenossen erleben, was ihnen der Reiseprospekt in blumiger Sprache suggerierte: „Überwältigt von der herrlichen Landschaft mit einer bezaubernden Vegetation wird Herz und Seele mit freudigem Glücke erfüllt.“

Ein letztes Mal waren die Straßen in Richtung Süden frei für Urlaubsträume. Wer so gut situiert und privilegiert war, daß er schon ein Auto besaß, dem ebnete ILF den Weg über die Alpen an den Gardasee und nach Venedig mit vorreservierten Hotels und Pensionen entlang der Fahrtroute hinein ins faschistische, ergo mit Nazi-Deutschland eng verbündete Italien. Auf der Rückfahrt ging es dann – Österreich war mittlerweile dem Großdeutschen Reich angeschlossen worden – „zum Großglockner, dem höchsten Berg Deutschlands“. 

Ein Juwel der Lagunenstadt: Circolo Golf Venezia

Waren die serpentinenreichen Paßstraßen erst überwunden, stand auch einem exquisiten Golfurlaub unter südlicher Sonne nichts mehr im Wege - wenngleich die Anzahl der Golfplätze in Bella Italia anno '39 noch ähnlich bescheiden war wie die der Anhänger des Golfsports beiderseits der Alpen. Immerhin lockte am Südende des Lido vor Venedig bereits ein formidabler 9-Löcher-Links-Course, gestaltet von einem schottischen Edelmann und Golfplatzarchitekten mit dem reichlich bizarren Namen Cruikshank of Maxwell M. Hart of Glasgow. 

Der nach dem Krieg auf 18 Loch erweiterte Circolo Golf Venezia ist zwar im Laufe der Jahrzehnte zu einem zauberhaften Parklandkurs mutiert; das rustikale Clubhaus innerhalb der Überreste von Wehrmauern einer Festungsanlage aus österreichisch-ungarischer K&K-Zeit allerdings sieht noch fast genauso aus wie vor 90 Jahren, als sich dort zwei Herren trafen, die mit Golf herzlich wenig am Hut hatten: Der Duce, Benito Mussolini, empfing im Juni 1934 seinen deutschen Bruder im Geiste, Adolf Hitler, bei dessen Besuch in der Lagunenstadt in der diskreten Abgeschiedenheit des Golfclubs auf dem Lido - gottseidank ein einmaliger wunder Punkt in der langen, stolzen Clubgeschichte. Der Circolo Golf ist bis heute ein Juwel der Serenissima.

Golfen mit Blick auf den Petersdom

In der Toskana, wenige Kilometer südlich von Florenz, konnte man 1939 bereits die abwechslungsreichen 18 Bahnen des sechs Jahre zuvor von den Briten Cecil Blandford und Peter Gannon designten Golfplatzes dell'Ugolino genießen, nicht ahnend, daß dort eine Epoche später, 1983, in einer völlig veränderten Welt ein junger Deutscher namens Bernhard Langer die Open d'Italia gewinnen würde, nach einem dramatischen Stechen gegen den Spanier Severiano Ballesteros und den Schotten Ken Brown.

Und in der Ewigen Stadt Rom warteten die von vielen Schirmpinien gesäumten leicht hügeligen Fairways des ältesten Golfplatzes Italiens, des Circolo del Golf di Roma Acquasanta - nahe der Via Appia Antica und mit spektakulärem Fernblick auf das berühmte Aquädukt des Claudius und - heute leider verbaut - die gewaltige Kuppel des Petersdoms. 

Abstecher nach Libyen

Deutlich bescheidener und absolut golffrei verlief hingegen die vom Mitteleuropäischen Reisebüro „von jeder deutschen Bahnstation aus“ angebotene „klassische Rom-Reise“ per Bahn. Wer sie buchte, konnte einen dem politischen Zeitgeist entsprechenden Abstecher hinzu buchen „in die durch Mussolini besiedelten Pontinischen Sümpfe“ südlich von Rom. Und für Urlauber mit viel Zeit und ausreichend Reichsmark in der Reisekasse gab es bei ILF sogar „eine interessante Anschlußfahrt nach der italienischen Besitzung Lybien“. 

Der Name des durch Mussolini annektierten nordafrikanischen Landes stand falsch, mit vertauschtem I und Y, im Prospekt; aber Rommels Panzer hatten das Wüstenlamnd an Nordafrikas Mittelmeerküste ja auch noch nicht überrollt, die korrekte Schreibweise Libyens hatte sich in Hitler-Deutschland noch nicht herumgesprochen.

Gleichfalls für gehobene Ansprüche gedacht war die Sizilien-Reise mit Eisenbahn („dritter Klasse in Deutschland, zweiter Klasse in Italien“) und Schiff, laut Prospekt “keine farblose und zwangvolle Massenreise, sondern eine Symphonie konzentrierter Lebensfreude“, 19 Tage für 358 Reichsmark ab München, alles inklusive. Wer hingegen eine „volkstümliche Reise“ oder gar eine der „Billigkeitstouren“ gebucht hatte, die ausgeschrieben wurden, „um es jedem einzelnen Volksgenossen zu ermöglichen, wenigstens einmal im Leben die südliche Adria kennen zu lernen“, der hatte wohl besser eine gut gefüllte Butterbrotdose im Handgepäck.

Selbstverpflegung bis Jugoslawien

Denn im Kleingedruckten der 199-Reichsmark-Reise (15 Tage ab München) war vermerkt: „Unsere Verpflichtungen beginnen mit dem Abendessen in Zagreb und enden mit dem Abendessen dortselbst.“ Bis Kroatien bzw. Jugoslawien war der Pauschalreisende Selbstversorger.

Den Feriengast, so der Werbetext im schwülstigen 30er-Jahre-Stil, erwarteten Eindrücke „wie ein Film voller Urwüchsigkeit und Anmut. Der herrliche Blick von der alten Römerbrücke in Mostar hält uns noch lange im Banne, dann aber eilen unsere Gedanken und Wünsche dem Meere entgegen“. Denn, so die Garantie des Veranstalters: „Das Baden und Paddeln im Meere ist inbegriffen.“ Fraglich war allerdings, ob dafür auch ausreichend Zeit blieb, denn nicht immer konnte der „Südwärts“-Reisende über seine Ferienzeit frei verfügen: „Nachmittags Kreditbriefeinlösung.“

Nur mit Devisenzuteilung

Ganz so „ohne Schwierigkeiten nach dem Süden“ gelangten eben im letzten Sommer vor dem großen Sturm selbst jene nicht, die von Führers Gnaden im Prinzip durften: „Auslandsreisen“, hieß es in den strengen Reisebestimmungen, „dürfen nicht angetreten werden, ehe die Devisen zugeteilt sind“, und: „Mit einer Devisenzuteilung kann nur bei frühzeitiger Anmeldung gerechnet werden.“ 

Zu früh durfte es allerdings auch nicht sein, denn: „Vom Datum der Zuteilung an besitzen die Devisen noch eine Gültigkeit von 3 Monaten.“ Auch die Art der Verwendung des Reisegeldes war reglementiert: „Für Ankäufe und Anschaffungen im Auslande sind die Devisen aus dem Reiseverkehrsabkommen nicht vorgesehen.“ 

Die „volkstümliche Fahrt nach Rom-Neapel“ könne man, so kündigte der ILF-Prospekt an, „bis Ende Oktober 1939“ antreten. Doch daraus wurde wohl nichts, und das Versprechen galt ohnehin von Anfang an nur mit Einschränkungen: „Wehrdienstpflichtige von 18 bis 45 (Ostpreußen bis 55)“, hieß es im Katalog aus Dresden im Kleingedruckten, drei Zeilen unter der Überschrift „ohne Schwierigkeiten nach dem Süden“, „bedürfen bei Reisen ins Ausland der Genehmigung des Wehrbezirkskommandos“. Ein Satz wie eine Sturmwarnung. 

Mittelmeer-Kreuzfahrten

Und dann gab es da noch, auf den Fernweh stimulierenden Seiten, „4 herrliche Mittelmeer-Reisen“ auf den Traumschiffen der späten Dreißiger – dem Dampfer Roma (30.800 Bruttoregistertonnen), dem Motorschiff Saturnia (24.500 t) und auf der Conte di Savoia, laut ILF „der Welt schönstes Schiff“ (48.500 t). Einen Sommer lang noch durfte die Conte di Savoia stolz die mediterranen Fluten durchpflügen, lief sie, beladen mit fast ausnahmslos italienischen und deutschen Touristen, Athen und Istanbul, Beirut, Haifa und Port Said, La Valetta, Neapel und Genua an. Bei ILF kostete die dreiwöchige Cruise durch das östliche Mittelmeer 555 Reichsmark in der Ersten und 400 RM in der Touristenklasse. 

Danach war Schluß mit den „Traumschiff“-Reisen. Arnold Kludas’ Dokumentation „Die großen Passagierschiffe der Welt“ notiert für die Conte di Savoia hinter der Jahreszahl 1939: „Aufgelegt. 1943: Einige Reisen als Truppentransporter, dann in Malamocco bei Venedig erneut aufgelegt. 11. September '43: Die Conte di Savoia wird von alliierten Flugzeugen angegriffen, gerät in Brand und sinkt im flachen Wasser“. 

Tod auf Raten

Ein tragisches Schicksal ereilte auch den etwas kleineren Urlaubsdampfer Roma, mit dem man vom 14. Juli bis 14. August 1939 - schon ab 387 RM in der Touristenklasse – eine vierwöchige Mittelmeer-Rundfahrt inklusive Syrakus auf Sizilien, Biserta in Tunesien und dem libyschen Tripolis hatte unternehmen können. 

Im Herbst 1940 von der italienischen Marine requiriert, die es mit stärkeren Motoren ausrüstete und allen Ernstes zum Flugzeugträger umbauen wollte, wurde das zwischenzeitlich in Aquila umbenannte Schiff 1943 von den Deutschen übernommen. Es folgte ein säuberlich dokumentierter Tod auf Raten: „20. Juni 1944: Bei einem alliierten Luftangriff auf Genua durch mehrere Bombenvolltreffer schwer beschädigt. 19. April 1945: Die Aquila wird im Hafen von Genua durch italienische Einmann-Torpedos angegriffen und versenkt, wodurch die befürchtete Versenkung des Schiffes durch die Deutschen in der Hafeneinfahrt verhindert wird.“

Den Zweiten Weltkrieg überlebt hat von den drei sehnsuchtsbeladenen Feriendampfern des Sommers 1939 allein der kleinste, die Saturnia. Sie wurde zwar – wie schon einmal 1935 in Italiens Abessinienkrieg – zwei Jahre lang als Truppentransporter zweckentfremdet und direkt nach Kriegsende unter der Flagge der US-Marine als Lazarettschiff eingesetzt. Doch dann waren ihr noch einmal 18 friedvolle Jahre als Passagierdampfer auf der Nordamerika-Route vergönnt. Im Herbst 1965 fuhr die Saturnia dann ein letztes Mal in den Hafen von La Spezia ein, zur Werft Terrestre Marittima, zum Abwracken – reif für den Flohmarkt der Geschichte. 

Auch der allerletzte Urlaubstraum aus dem Reisesommer 1939 war endgültig und für viele unwiederbringlich ausgeträumt.

Die ganze Geschichte erzählt die neueste Episode des Golfreise-Podcasts „EverGreens“. Den Podcast unseres Autors Wolfgang Weber finden Sie bei Spotify, Apple Podcast, Deezer, überall sonst, wo es gute Podcasts gibt - und auf der Webseite: www.ever-greens.de